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Neuromotorischer Aufrichtungsprozess und seine Bedeutung

Der neuromotorische Aufrichtungsprozess beinhaltet die „Aufrichtung“ des liegenden Säuglings in den selbständigen Stand gegen die Schwerkraft in Rücken- und Bauchlage.

Aufrichtung aus der Rückenlage

Aufrichtung aus der Bauchlage

Während der ersten zwölf Lebensmonate ist diese neuromotorische Entwicklung für das Neugeborene von sehr großer Bedeutung. Die anfänglich instabile Wirbelsäule ist noch nicht in der Lage dem Kopf bzw. dem ganzen Körper eine aufrechte Haltung zu gewährleisten. In verschiedenen Etappen entwickelt das Kind in Rücken- und Bauchlage durch das Trainieren verschiedener Körperhaltungen und Körperbewegungen wichtige Stützmuskulatur.
Diese Bewegungsentwicklung bringen dem Kind stabile Körperhaltungen und die dazugehörigen Gleichgewichtseinstellungen sowie Sinneserfahrungen.
Diese Erfahrungen motivieren das Kind sich mehr und mehr gegen die Schwerkraft hoch zu stützen und sich auf seine Umwelt einzulassen. Hierbei kommt es zu einer erweiterten Bewegungsfreiheit und zur Integration der Sinne. 

Das bedeutet, dass die eigene Körperwahrnehmung, die Wahrnehmung seines Körpers in einem Raum, das Gleichgewichtssystem sowie auch das visuelle System, etc. aufeinander abgestimmt, aufgebaut und trainiert werden. Gleichzeitig wird durch den Aufbau der Stützmuskulatur die Wirbelsäule gestärkt und stabilisiert sowie in ihrer Funktion erweitert, so dass sich das Kind selbständig in den freien Stand (und später zum sicheren Gehen) gegen die Schwerkraft aufrichten kann.

Lässt ihr Kind nun wichtige Entwicklungsschritte aufgrund von z. B. vorhandenen Blockaden der Wirbelsäule, Instabilität der Halswirbelsäule, KISS-Syndrom, Probleme bei der Geburt o. ä. aus, können dadurch bedingt Lücken bei der weiteren Entwicklung der Sinneswahrnehmung, Gleichgewichtsempfindung und in der visuellen Entwicklung entstehen. Die Kinder entwickeln sogenannte Ersatzmotorik-Muster.
D. h., dass sich Ihr Kind wohl weiter entwickeln wird und auch laufen lernt, jedoch auf „körperlichen und sensorischen Umwegen“.  Es entwickelt eine fehlgeleitete Dauerspannung in der Muskulatur, welche in auffälligen Bewegungs- und Haltungsmustern zu sehen ist. Man spricht hier auch von einer nicht gut aufgerichteten Wirbelsäule (hier ein sitzendes Kleinkind mit zu geringer Stützkraft im Lendenwirbel-Bereich = Sitzkyphose, welche sich nicht mehr von alleine zurückbilden wird. Das Kind wird später „Hummeln im Hintern“ haben, da es nicht richtig auf einem Stuhl sitzen kann). Oft sind diese Kinder bei den routinemässigen Untersuchungen beim Kinderarzt nur „wenig auffällig“ und werden als nicht behandlungsbedürftig eingeschätzt (nach dem Motto: „das wächst sich ´raus“…).

Aufrichtungsschwächen

Diese neuromotorischen Defizite machen sich jedoch „äußerlich“ in Form von Aufrichtungsschwächen der Wirbelsäule mit z. B. unphysiologischer Sitzhaltung oder gar in Koordinationsschwächen, „innerlich“ jedoch in einer schlechten Verarbeitung der sensorischen Informationen bemerkbar. Zudem sind sogar häufig noch bei Schulkindern frühkindliche Reflexe (Saug-, Handgreif-, Fussgreifreflex etc.) auslösbar, welche sich aufgrund von Entwicklungslücken nicht zurückbilden konnten. Dies kann zu weiteren Entwicklungsstörungen mit Verhaltens- und Lernschwierigkeiten führen (siehe Aufzählung am Anfang). 
Ein Kind mit bestehendem KISS (Kopfgelenk-Induziertes-Symmetrie-Syndrom) bzw. KIDD kann z. B. auch noch im Schulalter einen auslösbaren Saugreflex (Babkin) haben, welcher wiederum für Rechtschreib- und Rechenprobleme verantwortlich sein kann.
Ein Kind mit einer Sitzkyphose wird im Kindergarten oder in der Schule durch sein unruhiges Sitzverhalten auffallen. Es muss sich ständig bewegen oder gar aufstehen, da ihm diese unphysiologische Sitzposition Unbehagen oder sogar Schmerzen bereitet.

Krummes Sitzen auf Stuhl und an Tisch

Es erscheint den Lehrern unaufmerksam im Unterricht. Ein Kind mit schlecht aufgerichteter Halswirbelsäule weist häufig auch blickmotorischen Schwächen auf (z. B. Sakkaden bzw. Blicksprünge der Augen, welche vom Kind nicht kontrolliert werden können). Ihr Kind wird das Lesen bloß durch wiederholtes und andauerndes Üben nur selten fliessend erlernen können, so lange ihm seine Augen „Streiche spielen“. Es wird ständig seinen Unmut darüber äußern bis hin zum Frust und zu Recht über Müdigkeit sowie Kopfschmerzen klagen, da seine Augen nicht in der Lage sein werden, die Buchstaben über einen längeren Zeitraum fliessend zu verfolgen und zu erfassen.

[Aus: Wibke Bein-Wierzbinski, "Räumlich konstruktive Störungen bei Grundschulkindern", Peter Lang Verlag, Frankfurt 2005]